Allgemein
In Anhängen sowohl der DSM IV (culture-bound syndromes), der DSM V (cultural concepts of psychiatric disorders) als auch der ICD 10 (culture-specific disorders) werden psychiatrische Störungen verschiedener Kulturen aufgelistet und kurz beschrieben. Es wird darauf hingewiesen, dass hinsichtlich dieser Thematik noch viele Unsicherheiten bestehen und ein großer Forschungsbedarf besteht. Westliche schulmedizinische Psychiater tendieren dahingehend, kulturspezifische psychiatrische Störungen zu negieren und in die allgemeinen westlichen Diagnoseschemata zu integrieren; diese Schemata hätten weltweit Gültigkeit.
Die Ethno-Psychiatrie und Ethnologie dagegen betonen die kulturelle Partikularität dieser Erkrankungen.
Kulturspezifische psychiatrische Erkrankungen mit religiösem Inhalt
- Dhat-Syndrom
Die einzige kulturspezifische psychiatrische Erkrankung, die im Hauptteil eines Diagnoseschemas auftaucht, in der ICD 10, und nicht in Anhängen, ist das Dhat- Syndrom, auch semen-leaking-anxiety-disorder (Samenverlust-Angststörung) genannt; es wird in der ICD 10 mit F 48.8
(sonstige neurotische Störungen) codiert.
Der Begriff Dhat kommt von Sanskrit dhatu = Lebenselixier. In der hinduistischen Religion ist Sperma Kern/Elixier des Lebens; er ist verantwortlich für ein langes und gesundes Leben; je mehr Sperma man verliert, desto kränker wird man und desto früher stirbt man.
Das Dhat-Syndrom ist die übermäßige Angst, Sperma zu verlieren -z. B. durch Pollution (unwillkürlicher nächtlicher Samenerguss) oder Spermatorrhoe (Gefühl des Patienten, permanent Samenflüssigkeit beim Urinieren zu verlieren; dies führt zu einem zwanghaften Kontrollieren des Urins)- und dadurch schwer krank zu werden und vorzeitig zu sterben.
Das Krankheitsbild ist weiterhin von somatoformen, also psychosomatischen Symptomen wie Erschöpfung, Appetitmangel, Palpitationen (Herzrasen) und sexuellen Funktionsstörungen geprägt.
Dieses Syndrom ist hauptsächlich in Indien und Nepal verbreitet.
- Suo yang
In der westlichen Psychiatrie auch genital-retraction anxiety-disorder (Genital-Retraktions-Angst-Störung) genannt.
Diese Erkrankung steht in Bezug zur chinesischen Philosophie-Religion des Daoismus. Yin und Yang sind in dieser Philosophie-Religion Urprinzipien alles Seienden und müssen stets in Gleichgewicht gehalten werden.
Bestimmte sexuelle Handlungen wie Masturbation und Pollution führen zu einer Schwächung des Yang und damit zu einer Störung des Yin-Yang-Gleichgewichts. Auch lassen sich Bezüge zu indigenen chinesischen Religionen und zur traditionell chinesischen Medizin finden.
Die Wahnvorstellung und die Angst ist, dass sich durch die Störung des Gleichgewichts die äußeren Genitalien (bei Frauen auch die Brüste) ins Innere des Körpers zurückziehen und man stirbt. In Todesangst wird verzweifelt versucht auch mit Hilfsmitteln eine Retraktion zu verhindern; dabei können so schwere körperliche Verletzungen auftreten, dass manchmal auch Patienten*innen daran sterben.
(vgl. Garlipp, Petra: Koro – a Culture-Bound Phenomenon. Intercultural Psychiatric Implications. German J Psychiatry 2008; 11. S. 21-28)