Zwänge kennt man im Alltagsleben vielleicht als Tics oder wenn jemand beim Verlassen des Hauses mehrmals zurückgeht und in der Küche nachsieht, ob auch wirklich der Herd ausgeschaltet ist, oder harmlos bei einem Ohrwurm eines Liedes.
Wenn sich diese Symptome massiv quantitativ und qualitativ verschlimmern würden und der Patient/die Patientin unter starkem Leidensdruck stehen würde und er/sie sein/ihr Alltagsleben, Schule oder Beruf massiv einschränken oder ganz aufgeben müsste, dann spricht man in der Psychologie und Psychiatrie von einer Zwangsstörung.
Wenn im obigen Beispiel jemand beim Verlassen des Hauses z. B. 30, 50 oder 70 mal zurück in die Küche gehen muss, dann ist dies eine Zwangsstörung.
Differenzialdiagnostisch, also in Abgrenzung zu anderen psychischen Erkrankungen, sind folgende Qualitäten von Zwängen charakteristisch:
Die Zwänge (Zwangshandlungen/Zwangsgedanken) werden
Wenn der Patient/die Patientin die Zwänge als nicht zu sich gehörig empfinden würde (Ich-Syntonie), also z.B. seiner/ihrer Meinung nach geheime Strahlen der CIA oder der Teufel ihn/sie dazu zwingen, permanent in die Küche zurückzugehen, dann wäre an eine Psychose/Schizophrenie zu denken.
Reale Fallbeispiele von Zwangsstörungen mit religiösem Inhalt gibt im Folgendem der Kinder- und Jugendpsychiater Prof. G. Klosinski aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Uniklinik Würzburg, nachzulesen in:
Gunther Klosinski (Hrsg.): Religion als Chance oder Risiko. Vorwort von Hans Küng. Bern 1994
Fall:
„Einer meiner ersten Patienten, der mir vorgestellt wurde, war ein zwölfjähriger Junge aus einem entlegenen Dorf im Bayerischen Wald, der seit einigen Monaten unter einem ausgeprägten Waschzwang litt (er musste sich bis zu 50x täglich die Hände waschen). Der Mutter gegenüber hatte er starke Angst geäußert, vor allem vor Geschlechtskrankheiten. Er empfinde eine regelrechte Abscheu vor allem, was mit Sexualität und seinem Körper zu tun habe. Nach Ansicht der Mutter war dieses Verhalten auf den Sexualkundeunterricht in der Schule zurückzuführen. Der Junge befürchtete, dass er sich mit all seinen Gedanken und Handlungen dauernd gegen Gott versündige und glaubte, dass er sich im Zustand der Todsünde befände. Er hatte sich seit 8 Monaten nicht mehr getraut, zur Beichte zu gehen, obwohl der Pfarrer ihm immer wieder seine Bedenken zerstreut hatte. Er meinte jedoch, dass er in Wirklichkeit viel schlechter sei, als der Pfarrer wissen könne, und hielt sich nicht für würdig, die Absolution zu empfangen. Infolgedessen hatte er eine starke Angst vor dem Tod entwickelt, vor alle Dingen große Angst davor, auf eine Art ums Leben zu kommen, die als Selbstmord ausgelegt werden könnte. Er sei dadurch übervorsichtig geworden, vermutete auch hinter harmlosen Tatsachen versteckte Gefahren, die seinen Tod bedeuten könnten. So mied er jeden Kontakt mit Steckdosen und elektrischen Geräten aus Angst, einen elektrischen Schlag zu bekommen und daran zu sterben. Er war fest davon überzeugt, wenn er in diesem Zustand den Tod erleide, müsse er unweigerlich in die Hölle kommen. Zuletzt weigerte er sich, abends einzuschlafen und hielt sich krampfhaft wach, obwohl er totmüde war, aus Angst, dass ihm im Schlaf etwas passieren könnte. Er war schließlich von seinen Ängsten und Zwängen so überflutet, dass er nicht mehr die Schule besuchen konnte und wir ihn stationär aufnahmen.“
Fall:
„Ein elfjähriger Junge litt im Anschluss an Bibelstunden bei einem CVJM- Zeltlager unter quälenden Zwangsgedanken („Ich will in die Hölle“ – „Ich will gar nicht in die Hölle“), die ihn bei Schulaufgaben so hinderten, dass er bis nachts daran saß, da er das Geschriebene immer wieder durchstreichen musste, um die Zwangsgedanken damit wieder auszulöschen.“
Fall:
„(…) der Fall des 15 jährigen Alexanders, der während der Adventszeit auffällig wurde, indem er kaum noch aß, kaum noch sprach und sich völlig zurückzog. Er gab lediglich dabei zu verstehen, dass er ein Gelübde abgelegt habe. Den Eltern fielen Zwangshandlungen auf, indem er auf dem Flur der Wohnung hin- und herlief, an Schränke und Türen tippte, die Arme an den Körper legte oder sie zurückstreckte und sich „wie eine Tanzmaus drehte“, ein Ritual, dass ich über Stunden beschäftigte. Zum Entsetzen der Mutter versteckte er Kot in einem Plastiksack hinter seinem Bettkasten, wofür er keine Erklärung abgeben konnte. Wiederholt fand ihn die Mutter mit gefalteten Händen betend auf dem Boden knien. Auffällig war auch, dass er täglich zur Kirche ging. Schließlich war er so mit seinen Zwangsritualien beschäftigt, dass er nicht mehr die Schule besuchen konnte und eine stationäre Aufnahme notwendig wurde. In der Einzelpsychotherapie war der Junge ausgesprochen mutistisch (stumm/er sprach nicht; Endres) und war über verbale Strategien kaum zu erreichen. Eine schließlich von ihm angefertigte Zeichnung (er zeichnete mit dünnen, unsicheren Strichen einen nackten Mann, der an Stelle seines Geschlechtsteils ein Kreuz trug) legte die Vermutung nahe, dass eine sexuelle Problematik eine entscheidende Rolle spielte. Es stellte sich heraus, dass der Pfarrer im Religionsunterricht bei der Behandlung des Themas Sexualität geäußert hatte, dass Jungen, die sich in der Pubertät selbstbefriedigen, eine große Sünde begehen. Er war sogar so weit gegangen zu behaupten, dass derjenige, der sich selbst befriedigt, dadurch bestraft würde, dass ihm das Glied abfaule. Als Alexander kurz darauf eine Warze an seinem Glied entdeckte, die zudem noch dunkel pigmentiert war, empfand er dieses als ein Gottesgericht und legte daraufhin ein Gelübde ab, dass er niemals mehr diese Sünde begehen würde. Seine Versündigungsideen gingen so weit, dass er seinen Kot als etwas Schmutziges, Sündhaftes erlebte und er ihn deswegen zu verstecken suchte.“
Fall:
„Ein 15-jähriges Mädchen legte, nachdem sie ein Erstickungsfall ihrer jüngeren Schwester miterlebt hatte, ein Gelübde ab, dass sie sich fortan jeglicher Genüsse und Freuden enthalten werde, wenn nur ihre Schwester gesund bleibe. Sie musste ihr Gelübde „Freude ist Sünde“ unzählige Male laut aussprechen, so dass sie fast handlungsunfähig wurde. Sie entstammte einem streng katholischen, prüden Elternhaus in einem entlegenen Dorf im Bayerischen Wald. Ihr aus diesem Gelübde abgeleiteten Wunsch, später ins Kloster zu gehen, wurde von der Familie mit Wohlwollen aufgenommen. Es gelang uns aber, sie von ihrer Zwangssymptomatik zu befreien.“
Fall:
„Ein neunjähriges Mädchen, die der Mutter gestanden hatte, dass sie mit einem gleichaltrigen Mädchen Doktorles-Spiele gemacht hatte, erschreckte die Familie mit zwanghaften blasphemischen Äußerungen („Saugott“), die sie unzählige Male am Tag laut aussprechen musste.“
Soweit Klosinski.
Ergänzend zum letzten Fall will ich einen weiteren Fall bringen, der ähnlich gelagert ist:
Eine gläubige Person geht in die Kirche und sofort drängen sich ihr gegen ihren Willen blasphemische Gedanken auf, die sie nicht unterdrücken und abstellen kann. Solche Gedanken können sprachlicher Natur sein (z.B.: „Ich hasse Gott“) oder Bilder (z.B. das Zertreten der geweihten Hostie mit den Schuhen/Füßen, ein Bild des "Teufels", oder das Zerreißen einer Bibel oder das Bespucken eines Kreuzes), die sich wie eine hängende Schallplatte wiederholen und denen der Patient/die Patientin ohnmächtig ausgeliefert ist.
Weitere Fehlformen zwanghaften Glaubens: