Die Unterscheidung zwischen gesunder, abnormer und pathologischer (leidvoller) Religiosität
Im Folgenden beziehee ich mich auf den Aufsatz des auch an Theologie interessierten Psychiaters Prof. Joachim Heinrich Demling: Gesunde und leidvolle Religiosität. Versuch einer psychiatrisch-psychopathologischen Abgrenzung. Erschienen in der Zeitschrift: spiritual care. 2017. Die dort vorgeschlagenen Definitionen sind sehr pragmatisch und nur auf den ersten Blick oberflächlich; sie sind für einen Einstieg in die Problematik meiner Meinung nach gut geeignet.
Um es kurz zu machen: Bei gesunder Religiosität überwiegen die positiven Seiten für das Individuum und die Gesellschaft. Bei pathologischer, also leidvoller Religiosität, überwiegen die negativen Seiten und die abnorme Religiosität liegt irgendwo in der Mitte.Pathologische Religiosität werde ich in den nachfolgenden Kapiteln ausführlich behandeln , folgend ein Fallbeispiel für abnorme Religiosität:
Fall:
„Ein Mann, ca. Mitte 50 Jahre, im gepflegten schwarzen Anzug und mit einem die Brust bedeckenden Bart fällt dadurch auf, dass er in der Fußgängerzone einer Großstadt umhergeht und mit lauter und feierlicher Stimme verkündet, alle Menschen seien Sünder, der Untergang der Welt stehe bevor, wer nicht Buße tue und sein Erspartes an die Bedürftigen gebe, verfalle der ewigen Verdammnis. Nichts bleibe Gott verborgen. Passanten bietet er hektographierte Blätter mit Texten an, die seine Äußerungen näher ausführen und unter Nennung einer Adresse zur Diskussion über Glaubensfragen auffordern.“
Zur abnormen Religiosität gehören alle übersteigerten und emotional über(be)werteten religiösen Formen von Religiosität (überwertige Ideen) in Bezug gesetzt zur Kultur und zur Zeitepoche. Im obigen Fall ist das religiöse Verhalten und Erleben des Mannes im Europa des 21. Jahrhunderts für die Mehrheit der Christen nicht repräsentativ und damit abnorm. Die Übergänge zur pathologischen Religiosität aber auch zur gesunden Religiosität sind oft fließend; genauer: Der Übergang von gesunder zur abnormer Religiosität ist quantitativer Art, von abnormer zur pathologischen Religiosität qualitativer Art. Im obigen Fall z.B. könnte man pathologische Anteile eventuell in einer histrionischen Persönlichkeitsstörung sehen (von lat.: histrio = der Schauspieler; frühere Bezeichnung: Hysterie).
Gesunde Religiosität dagegen macht glücklich und zufrieden, gibt dem Leben Sinn und Trost und Zuversicht in schweren Lebenslagen wie Krankheit und Tod. Negative Seiten eines solchen Glaubens, wie z.B. Glaubenszweifel oder Kritik an Gott angesichts des Zustandes der Welt oder Hadern mit Gott wegen z.B. eigener Krankheit führen zu keiner schweren existentiellen Glaubenskrise und verursachen kein schweres Leid. Demling geht auch auf die zwischen Philosophen, Theologen und Psychiatern/Psychologen heiß diskutierte Frage ein, was gesunde Religiosität vom Wahn unterscheidet: Ein Glaubender/eine Glaubende ist von etwas überzeugt, das er/sie weder sieht noch hört noch anfassen kann, und damit bestehen Ähnlichkeiten mit den Symptomen eines Wahnes. Demling geht davon aus, dass es trotzdem Unterschiede gibt und bezieht sich dabei auf den Philosophen und Psychiater Prof. Karl Jaspers.
Auch ich bin der Meinung, dass es Unterschiede gibt, nur überzeugen mich die Unterscheidungskriterien von Jaspers/Demling nicht in Gänze; ich stehe näher der Position des Psychiaters und Begründers der analytischen Psychologie Prof. Carl Gustav Jung, der, um es mit meinen eigenen Worten auszudrücken, zwischen gesundem „Wahn“, der dann kein Wahn mehr ist, und krankhaften Wahn unterscheidet und die gesunde Religiosität auf Seiten des gesunden „Wahns“ verortet, der ein besonderer Bewusstseinszustand ist und den Jung wie folgt charakterisiert: „Ich glaube nicht, ich weiß.“
Ich will allerdings auch anmerken, dass es meiner Meinung nach so viele verschiedene Glaubensweisen gibt, wie es Menschen gibt.
Die pathologische (leidvolle) Religiosität umfasst 2 verschiedene Bereiche:
Zu betonen ist, dass es zwischen gesunder, abnormer und den beiden Arten von pathologischer Religiosität immer auch zu Überschneidungen kommen kann.